(Kommentar) Man muss nicht in den Monokulturlandschaften der industriellen Agrarproduktion frustwandeln, um zu erkennen: Das ist der Anfang vom Ende. Es genügt, einen halbstündigen Sonntags- oder Abendspaziergang durchs Siedlungsgebiet zu bewältigen. Hier ergießt sich Schotter aller Couleur über das Vor-dem-Haus- und Hinter-dem-Haus-Terrain - die Vokabel "Garten" mag man in diesem Zusammenhang gar nicht mehr über die Lippen bringen. Da täuschen farblich variable, mäandernde Kiesstreifen Geschmack vor, stechen aus dem Alpen- oder Weissenbacher Ziersplitt, dem Oberrhein-Kies, dem Schottischen Granit, dem Rosso Verona oder dem Nero Ebano bestenfalls einige Tupfen Grün in Form von Zwergkoniferen hervor oder, was der gartengestalterischen Farce die Krone aufsetzt, runden hingedippte Dekoherzen und -kränze aus Natur(!)material, allerlei Gefiedertes aus rostendem Blech oder andere, in Stein gegossene Faunen-Vertreter die außengestalterischen Schandtaten ab.


(Fotos: Osterode am Harz, Landkreis Göttingen/Niedersachsen)
Schließlich sollen Entree und Flur hinterm Haus edel aussehen, "gepflegt" und auch: nach Geld. Dass so mancher Nachbar mehr oder weniger offen anerkennend beim Anblick der schneeweißen, trommelgerundeten Marmorkiesel oder hochglanzpolierten Einfassungen aus schwarzem Granit die Brauen heben mag, lässt sich allein an der pandemischen Verbreitung der Schotterseuche ermessen. Zunächst erlagen nur wenige dem Ruf des Kieses, heute kann man traditionelle Gärten mit Bäumen, Sträuchern und Stauden in einem Umkreis von mehreren Kilometern an einer Hand abzählen.
Geradezu lächerlich erscheinen in Anbetracht der fortschreitenden Verschotterung die vorgeblichen Bemühungen der Landesregierung Niedersachsen zu den Themen Ökologie und Artenschutz. Da werden große Worte zu Papier und zu Gehör gebracht, ist von einem erfolgreichen "Niedersächsischen Weg" die Rede, wird von "programmistisch fundierter Grundlage" gefaselt und von einer "systematischen Orientierung an der Agenda 2030 der UN-Vollversammlung ("Sustainable Development Goals"). Olaf Lies (SPD), der sich als ehemaliger niedersächsischer Wirtschaftsminister gegenüber grünem Drängen seinen Ruf als Hardliner mehr als verdient hat und seit 2017 dem Land als Umweltminister (!) vorsteht, feierte jüngst sich und seine Erfolge in einem ersten Bericht nach Verabschiedung der "Nachhaltigkeitsstrategie für Niedersachsen": Wir sind auf dem besten Weg.
Ach wirklich? Während sich ökologische Fortschritte maximal im Schneckentempo vollziehen, wird immer noch millionenfach gestorben. Zwischen 1980 und 2016 ist die Zahl der Vögel in der EU auf weniger als die Hälfte geschrumpft - und es geht weiter abwärts ("European Bird Census Council). Gleichzeitig hat Deutschland seit 1987 rund 76 Prozent der Insektenbiomasse verloren - auch hier ist keine Trendwende in Sicht.
Für Landes- wie Lokalpolitiker ist das trotzdem kein Grund, drastischere Maßnahmen zu fordern oder gar durchzusetzen, und nicht einmal geltendes Gesetz wird eingehalten. Es mangelt an gesundem Menschenverstand, an Grundlagenwissen und Weitsicht. Die eigene Karriere steht im Vordergrund, und jedes Ökologisieren behindert das Gleiten nach oben oder in die Reihen der örtlichen Schickeria. Und wenn selbst Bürgermeister, Bauamtsleiter, Führungskräfte in den Bauhöfen und zwei Drittel der Verwaltung ihre Gärten verschottern - wie sollte dann "dem einfachen Bürger" klar sein, dass Schotter den Klimawandel befeuert und in punkto Lebensfeindlichkeit kaum zu übertreffen ist?
Wo nichts wächst, wo keine Pflanze Blüten und Samen produziert, kein Baum und kein Strauch Unterschlupf, Nahrung und Kinderstube bietet, ist es auch um Insekten und Vögel schlecht bestellt. Bäume und Sträucher sind Lebensräume, die erhaltenswert sind. Allein, wer eine Sand- oder Moorbirke fällt, vernichtet damit Lebensraum für mehr als 160 Insektenarten, bei einer Eiche sind das schon 170 verschiedene Großschmetterlingsarten und weitere 130 Insektenarten. Größere Bäume in Siedlungsgebieten sind inzwischen eine Rarität. Bestenfalls stößt man auf höhere Koniferen auf öden Rasenflächen; kleine Hausbäume und Solitärsträucher sind, falls überhaupt vorhanden, oft bis zur Unkenntlichkeit gestutzt. Fast nirgends finden sich natürlich gewachsene Sträucher, geschweige heimische Gehölze wie Kornelkirsche, Weißdorn, Berberitze, Holunder oder Mispel. Und wie viele Gartenbesitzer legen heute noch Kräuter-, Gemüse- oder Blumenbeete an? Statt dessen wird gerodet, der Boden mit Sperrfolie abgedichtet und tonnenweise Kies oder Mulch ausgebracht, völlig ignorierend, dass damit die letzten Reste an Lebensraum einem irregeleiteten Gartengeschmack zum Opfer fallen.
Und wo keine Insekten, da keine Vögel. Von den rund 250 Vogelarten, die in Deutschland brüten, sind 80 Prozent auf Insekten und Spinnentiere als Nahrungsquelle angewiesen. Selbst solche Arten, die sich als Erwachsene von Sämereien ernähren, füttern ihre Jungen mit Kerbtieren. Und überhaupt: Wo sollen all die Sämereien herkommen, wenn nicht aus den Gärten, den Parks, den verwilderten Ecken?

Eine Inventur der Privatgärten und öffentlichen Flächen tut dringend Not. Und das Einhalten von Gesetzen - denn schon heute gibt es rechtsverbindliche Vorschriften. So verfügt § 9 Abs. 2 der Niedersächsischen Bauordnung (NBauO), dass nicht überbaute Flächen von Baugrundstücken Grünflächen sein müssen. Solche Freiflächen müssen mit Gras, Gehölzen, Nutz- oder Zierpflanzen bestellt sein; Platten und Pflaster dürfen Beete zwar einfassen, diese aber nicht überwiegen. Das Niedersächsische Ministerium für Umwelt, Energie, Bauen und Klimaschutz schreibt auf seinen Internetseiten, dass Steinflächen "aus Gründen der Gestaltung oder leichteren Pflege nur in geringem Maße zulässig" sind, und befindet: ",,,Schotterflächen (mit oder ohne Unterfolie)... sind keine Grünflächen im Sinne des Bauordnungsrechts." Zuständig für die Überprüfung und Einhaltung sind die unteren Bauaufsichtsbehörden vor Ort. Entsprechend § 79 der Niedersächsischen Bauordnung (NBauO) können sie "Maßnahmen anordnen, die zur Herstellung und Sicherung RECHTMÄßIGER Zustände erforderlich sind", sprich: Die Behörde darf die Begrünung und entsprechende Unterhaltungsmaßnahmen vom Grundstückseigentümer verlangen. Wer zuwider handelt, dem droht ein Ordnungswidrigkeitsverfahren.
Allerdings: Landauf, landab sprießt der Klüngel - man kennt sich halt. Die Vertreter der Naturschutzverbände machen da keine Ausnahme. Dazu kommt, dass in so manchem Fall die Kontrolleure gleichzeitig die Übeltäter sind. Was also tun? Dem Sterben weiter zusehen und sich verabschieden von der Hoffnung, dass letztlich das Recht über den Verstoß, vor allem aber die Vielfalt über die Ödnis siegt? Nein. Jeder kann etwas tun. Wenn er will.

